Noch ist es gelegentlich bewölkt, aber immer häufiger scheint die Sonne. Daniel Schedler und ich nutzen das gute Wetter, um nochmal den abendlichen Flug von der Deponie Median Sidonia zum Schlafplatz zu zählen. Ein paar Kilometer nördlich der Deponie fliegen über uns am blauen Himmel etwa 40 Störche. Mit ausgebreiteten Flügeln segeln sie in in einer Thermik und schrauben sich kreiselnd empor.
Knapp vor der Deponie sehen wir erneut kreisende Störche. Diesmal halten wir an, um die Sache genauer zu betrachten. Nach einigen Minuten hat der Trupp, es sind etwa 50 Vögel, offenbar seine Reisehöhe erreicht. Die Störche verlassen die Thermiksäule und fliegen gemeinsam im Gleitflug ab. Alle Schnäbel zeigen jetzt in die gleiche Richtung, die Vögel sind unterwegs nach Norden. Ist das etwa der Beginn des Heimzugs von der Deponie in die westeuropäischen Brutgebiete? So ganz klar sind wir uns da bisher nicht.
Dann entdecken wir am Himmel über der Deponie einen weiteren Trupp aus etwa 50 thermiksegelnden Störchen. Auch hier bietet sich wieder das gleiche Bild: Die Thermik wird verlassen, und die Vögel ziehen nordwärts über uns hinweg. Mit dem Spektiv beobachtet Daniel die fliegenden Störche. Nach einigen Kilometern Flugweg erreichen sie den Trupp, der uns vorher überflogen hat. Und schließlich stellt Daniel fest, dass sich dort inzwischen etwa 140 Vögel zusammengefunden haben. Gemeinsam machen sie sich einige Minuten später wieder im Gleitflug auf in Richtung Norden und sind bald endgültig ausser Sichtweite.
Jetzt gibt es keinen Zweifel mehr: Wir haben gerade den Abflug einer Schar von Störchen aus dem Überwinterungsgebiet in Spanien in Richtung der westeuropäischen Brutgebiete beobachtet. Lehrbuchhaft lief das Schauspiel ab, mit dem Wechsel von Thermiksegeln zur Gewinnung von Höhe und dem Gleitflug zum Fuss der nächsten Thermik, um „Strecke zu machen“. Noch vor der Abenddämmerung könnten die Vögel schon mehr als 100 km nördlich der Deponie sein. Die Zugrichtung, überprüft mit meinem Kompass, zeigte fast genau nach Norden.
Wir sind begeistert. So unmittelbar haben wir Beide den Abzug von Störchen noch nicht erlebt. Aber was bedeutet der Abzug für unsere Arbeit? Haben bereits alle Störche auf der Deponie, nach mehrtägiger Zwangspause aufgrund fehlender Thermik, den ersten warmen Tag zum Abzug genutzt? Etwas bange ist uns schon, als wir zum Eingang der Deponie fahren. Dort bietet sich das gleiche Bild wie gestern: Viele Silbermöwen, und nur auf einem der Wirtschaftsgebäude haben sich ein paar einzelne Störche zwischen den Scharen der Möwen niedergelassen.
An der Pforte zur Deponie spricht Daniel mit dem Wachmann und erfährt, dass der Chef der Anlage während der Arbeitstage hier vormittags zu sprechen sei. Nur er könne uns eine Bewilligung erteilen. Bingo, auf solch eine Gelegenheit hatten wir gewartet. Wir beschliessen, bereits morgen oder übermorgen wieder zu kommen, in der Hoffnung, das begehrte Dokument endlich zu erhalten. Der Wachmann teilt uns dann noch mit, der Rundweg um die Deponie, der direkt hinter der Einfahrt zur Anlage beginne, verlaufe knapp ausserhalb der Deponie und könne deshalb ohne Genehmigung befahren werden. Schnell sind wir unterwegs, und zwischen Zäunen, die von Millionen Plastiktüten verhangen sind, kommen wir unserem Ziel auf der rutschigen und teilweise steilen Piste endlich näher.
Während im vorderen Bereich der Halde sich der Müll noch offen sichtbar stapelt, wurde weiter hinten bereits begonnen, ihn mit Erde abzudecken. Große Röhren sind dort gelagert, und dicke Schläuche werden im Erdreich verlegt. Soll dort Methan aus dem abgedeckten Müll gesammelt werden, oder geht es vielleicht nur um die Ableitung von Wasser? Wir hoffen, bei unserem Besuch beim Direktor der Anlage mehr zu erfahren. Dort, wo der Weg über eine Anhöhe führt, die den Blick auf die westliche Flanke der Deponie frei gibt, verlief gestern der Schlafplatzflug der Störche. Dies ist genau die Stelle, um das Spektakel diesmal aus der Nähe zu beobachten.
Und tatsächlich, nur kurze Zeit später beginnt auch heute der Abflug zum Schlafplatz. Einzelne Störche zuerst, dann kleinere Trupps, verlassen die Deponie und fliegen nach Westen. Dann jedoch, unvermittelt, erscheint eine relativ kompakte Gruppe von etwa 400 Störchen über der Deponie und schlägt die gleiche Richtung ein. Weitere kleinere Trupps folgen, und auch eine halbe Stunde später, als es bereits dunkelt, ist der Abflug noch nicht beendet. Gezählt haben wir den Schlafplatzflug heute nicht, aber an die Tausend Vögel könnten es auch diesmal wieder gewesen sein.
Für Daniel und mich geht ein spannender Tag zu Ende. Wir konnten den Beginn des „Heimzugs“ einer Gruppe von Störchen miterleben. Und wir haben anhand des erneuten Schlafplatzfluges nach Westen festgestellt, dass noch immer grosse Zahlen von Störchen auf der Deponie sind. Mehr konnten wir nicht erwarten. Eine Stunde später sitze ich bei Daniels Familie im Zelt, wo seine Frau Manu uns ein köstliches Essen kredenzt. So wie heute dürfte es weitergehn.