Wieder ein Nachmittag an der Deponie. Nicht, dass ich den Müll besonders anziehend fände. Aber es scheint tatsächlich so, dass die Störche in diesem Teil Andalusiens sich praktisch nur auf der Deponie aufhalten – sieht man mal von den Schlafplätzen ab, die wir noch nicht gefunden haben. Bei unseren Untersuchungen vor 10 Jahren war die Region teilweise noch von Macchie und anderen Südspanien-typischen Vegetationsformen geprägt. Heute wird fast jeder Quadratmeter Land intensiv landwirtschaftlich genutzt, ohne Rücksicht auf Erosion oder Naturzerstörung. Geeignete Nahrungsressourcen ausser dem Müll gibt es in der Region Medina Sidonia für die Störche offenbar nicht.
Auf der Fahrt zur Deponie bin ich erstaunt, wie viele Arten doch noch in der ausgeräumten Landschaft leben. Jetzt, wo es tagsüber wieder etwas wärmer wird, scheint auch die Tierwelt wieder aktiver. Über den Feldern singen Lerchen, Braunkehlchen fliegen vor dem Auto am Wegrand entlang, und ganze Heerscharen von Rothühnern balzen im Ackerland. Wie viele von den hübschen Hühnervögeln in Gefangenschaft für die Jagd gezüchtet und ausgesetzt werden, ist ein Geheimnis. Jedenfalls waren am Wochenende die Waidmänner in Armeestärke unterwegs. Vor allem am späten Nachmittag hallten die Schüsse permanent über die Flur.
Eingerahmt von Feldern und Olivenplantagen liegt, am Ende einer asphaltierten Stichstrasse, die Deponie. Ein rundes, aus Holz erbautes Pförtnerhaus, mehrere riesige Wirtschaftsgebäude, und vor allem der Berg aus Müll. Auf den Erdstrassen, die auf den Müllberg führen, quälen sich schwerbeladene LKW nach oben. Auf dem Plateau wird die Fracht entladen, meist durch Kippen der Mulde, und das ist der Augenblick, auf den Tausende Möwen, Schwarzmilane, Störche, Seidenreiher und andere Vögel warten. Sie stürzen sich auf die ausgekippte Ladung, manche landen gar auf der Fracht, bevor der LKW steht und beginnen nach Fressbarem zu suchen. An der Reaktion der Störche kann ich erkennen, dass manche Laster keinerlei organisches Material heran transportieren. Die Vögel kommen zwar, um nachzuschauen, fliegen aber nach kurzer Zeit unverrichteter Dinge wieder ab.
Auf den älteren Bereichen der Deponie, wo die Ablagerung von Abfällen beendet ist, wird der Müll mit Erde überdeckt. Grosse Bereiche sind somit schon jetzt rein äusserlich nicht mehr als Müllkippe zu erkennen (siehe Fotos). Wozu die starken Rohre dienen, die an diesen Stellen oben auf der Deponie gelagert werden, und ob es sich bei den dort ebenfalls gestapelten dickeren Schläuchen um Drainagen handelt, das wissen wir bisher nicht.
Der noch nicht abgedeckte Müll beinhaltet so ziemlich alles, was man sich vorstellen kann. Ganze Matrazenlager wurden dort abgeladen, Bauschutt, Haushaltsmüll und vor allem Plastiktüten und -folien. Letztere treibt der Wind über die Grenzen der Deponie hinaus, und viele Zäune in der hügeligen Landschaft, auch Hunderte von Metern von der Deponie entfernt, sind mit Plastiktüten in allen Farben garniert. Eine öffentlich zugängliche Erdpiste führt rund um die Deponie. Sie folgt der bewegten Topografie bergauf und bergab und ist nach den Regenfällen der vergangenen Tage jetzt nass und schmierig. Immerhin ist dieser Weg bisher unsere einzige Chance, den Störchen wenigsten ein klein wenig näher zu kommen.
Doch jetzt wieder zurück zum eigentlichen Thema. Es scheint, als hätte seit gestern die Zahl der Störche auf der Deponie beträchtlich abgenommen. Zwar beginnt der Flug zum westlich der Deponie gelegenen Schlafplatz bereits etwa um 18 Uhr und setzt sich „tröpfelnd“ bis fast zur Dunkelheit fort, aber einen grossen Schlafplatztrupp wie gestern kann ich heute nicht erleben. Höchstens 400 Störche insgesamt habe ich heute Abend gesehen. Bei dem derzeit sonnigen Wetter herrscht gute Thermik. Vielleicht haben ja deshalb bereits heute früh nochmals zahlreiche Störche den Heimflug angetreten.
Als vor Einbruch der Dämmerung ein grosser Radlader auf die Deponie fährt und den „frisch“ abgeladenen Müll verteilt, sind sofort zahlreiche Störche zur Stelle, neben vielen Möwen, Seidenreihern und Greifvögeln. Es scheint, dass die Störche hin und her gerissen sind zwischen Bleiben bzw. Fressen und dem Abflug zum Schlafplatz. Viele der Vögel, die den Bagger umschwärmen, drehen bei einer ihrer Runden ab und verschwinden gen Westen. Andere zieht es nach einigen hundert Metern Flug Richtung Schlafplatz wieder zurück zum Müll. Ein Storch gar rauscht nach den ersten 200 Metern Flug im Sturzflug bis dicht über den Boden und fliegt in nur geringer Höhe schnell zurück auf die Deponie.
Kurz vor Einbruch der Dunkelheit fahre ich zur „Laguna Commissario“, die, wie Gert Dahms und Helmut Eggers mir erzählten, in früheren Jahren stets ein wichtiger Storchen-Schlafplatz war. Gegenüber der Mündung der Deponie-Stichstrasse liegt sie auf der anderen Strassenseite der Landstrasse, in einem Tal im hügeligen Gelände. Auf einigen Bäumen, die in der schilfgesäumten Wasserfläche stehen, sitzen bereits viele hundert Seidenreiher, und weitere grosse Trupps kommen ständig dazu. Als es schon dunkel ist, fliegen die kleinen, weissen Reiher noch immer aus Richtung der Deponie heran und überqueren die Strasse in nur 1 bis 2 Metern Höhe. Auch Tausende Stare haben sich bereits im Schilfgürtel eingefunden. Weissstörche sehe ich in der Lagune jedoch nicht. Auch Flugbewegungen von Störchen zwischen Deponie und Lagune kann ich nicht feststellen. Als Storchenschlafplatz wird sie wohl derzeit nicht genutzt.
Etwa 60 km, 1 Stunde Fahrt, sind es zurück zum Campingplatz in Conil de la Frontera. Die näher an der Deponie gelegenen Plätze sind jetzt, im Winter, leider geschlossen. Morgen früh muss ich mit Daniel die gleiche Strecke schon wieder fahren. Wir hoffen, am Vormittag den Direktor der Betreibergesellschaft zu treffen. Vielleicht wissen wir danach mehr über die Strategie der Deponierung in Media Sidonia, und mit viel Glück erhalten wir eine Betretungsgenehmigung.